Film „Hänsel und Gretel“ (1987): Ein Märchen im Wandel der Zeit – Medienvergleich

Cannon Movie Tales: Hänsel und Gretel (1987)

Die erste Verfilmung des Volksmärchens Hänsel und Grethel war bereits im 19. Jahrhundert auf Leinwand zu betrachten. Im Jahr 1897 erschien der Stummfilm von Oskar Messter – 40 Jahre lediglich nach der „Ausgabe letzter Hand“ der Brüder Grimm von 1857. Wiederum 90 Jahre nach der ersten filmischen Ausgestaltung des literarischen Märchenklassikers veröffentlichen die erfolgreichen Filmproduzenten Yoram Globus und Menaham Golan auch eine Umsetzung für das Kino. Hänsel und Gretel (1987) ist dabei Bestandteil der amerikanischen Märchenfilmreihe Cannon Movie Tales (1986-1989) bestehend aus neun Filmen, die auf den Märchen der Brüder Grimm basieren.

Hänsel und Gretel (KHM 15) ist Teil der Märchensammlung Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm – im Jahr 1812 erstmals erschienen. Weitere Überarbeitungen des Bandes gab es 1819, 1837, 1840, 1843, 1850 und 1857. In den Ausgaben ab 1840 wurde beispielsweise aus der „Mutter“ die „Stiefmutter“. Die verlinkte Website bietet Zugriff auf alle sieben Fassungen und zusätzlich einen automatisierten Vergleich zweier Fassungen an. Somit können alle textlichen Veränderungen sehr gezielt eingesehen werden.

https://khm.li/Haensel-und-Grethel/Fassungen

Vergleich der Fassungen von 1812 und 1819
1812
1857

Diese Textauszüge zeigen die Veränderungen deutlich auf. Doch inwieweit bedienen sich Hänsel und Gretel-Verfilmungen an inhaltlichen Einzelelementen aller Fassungen? Fügen die Filme neue Darstellungen hinzu? Dabei fällt die Erzählzeit (Definition: Zeit, die Leser/innen brauchen, um einen Text zu lesen oder Film anzusehen) recht kurz aus. Das Lesen das Märchens dauert hierbei kaum mehr als 10 Minuten. Die Verfilmung (1987, Regie: Len Talan) hat hingegen eine Gesamtspieldauer von 86 Minuten (Blu-ray). Aus all diesen ersten Beobachtungen können Thesen aufgestellt werden:

These 1

Die Verfilmung Hänsel und Gretel (1987) verwendet alle 7 Fassungen von Hänsel und Gretel aus Grimms Kinder- und Hausmärchen, um bei der filmischen Inszenierung nicht limitiert zu sein.

These 2

Die Verfilmung Hänsel und Gretel (1987) bedient sich aus weiteren literarischen Neubearbeitungen dieses Märchens (Beispiel: Ludwig Bechstein)

These 3

Die Verfilmung Hänsel und Gretel (1987) fügt neue Handlungstränge und Narrative ein, um Kinofilmlänge zu erreichen.

Die hier aufgestellten Thesen können zweifelsfrei auf alle Verfilmungen zu Hänsel und Gretel angewendet und analytisch erprobt werden. Exemplarisch soll es im Folgenden an der Cannon Movie Tales Version abgehandelt werden. Am 13.11.2020 erschien der Film erstmals auf Blu-ray in der Mediabook-Version – das Cover greift hierbei das Design des Original-Kinoplakats von 1987 auf.

Die Eröffnungssequenz der Verfilmung zeigt bereits eindringlich die Hungersnot der Familie. Doch der Weg führt hier nicht direkt in den Wald. Das Aussetzen der Kinder im Wald bleibt im Film zunächst aus. Die Frau des Holzfällers ist Mutter der Kinder – keine Stiefmutter. Der Film greift hier demnach auf die Fassungen von 1812, 1819 bzw. 1837 zurück bei der die Frau noch als „Mutter“ betitelt wird. Vater und Kinder gelangen im ersten Akt des Films zum Marktplatz bevor es wieder zur eigenen Behausung geht. Auf dem Markt wird ausgiebig getanzt und die Kinder vertreiben sich die Zeit. So werden neue Handlungsstränge eingefügt, indem auf der auditiven Ebene zahlreiche Gesangs- und Tanzeinlagen (00:13:11 / 00:31:17 / 00:34:01) eingefügt werden und Erzählzeit generieren. Geld kann der Vater aber nicht vom Markt mitbringen. Erst ein freundlicher Nachbar der Familie sorgt für Euphorie, da er Lebensmittel spendet (00:19:21). Die Mutter bereitet einen Kuchen zu. Die Kinder sollen darauf aufpassen während sie Beeren im Wald pflücken will. Doch die Kinder passen nicht auf und tanzen wieder (00:22:19). Das Stallvieh macht sich derweil über den Kuchen her. Die heimgekehrte Mutter schickt die Kinder zur Strafe zum Beerensuchen in den Wald.

Die Erzählung ist demnach etwas weniger grausam als in der literarischen Vorlage. Die Notlage der Familie ist nicht zuletzt durch die energisch auftretende Mutter spürbar. Die Figurenentwicklung ist jedoch anders gestaltet, wenn sie in der Verfilmung treusorgend und reumütig die erschwerende Suche mit dem Vater im Wald unternimmt. Der zentrale Konflikt ist im Film auch die Notlage, doch entsteht der Konflikt hier noch viel mehr durch erzieherisches Fehlverhalten und Nichteinhalten von Absprachen.

Auf der visuellen Ebene werden den Zuschauer/innen durchweg zunächst leicht verdauliche Bilder gezeigt. Die Licht- und Farbdramaturgie erinnern hierbei an einen Sommerkinofilm – keinesfalls aber an dunkle tiefe Wälder wie bei der literarischen Vorlage. Diese Lichtgebung setzt sich im Wald beim Hexenhaus fort, doch können hier zumindest Kostüme und Make-Up der bösen Hexe ein schauriges Gefühl erzeugen. Das Szenenbild trägt zu dieser etwas gruseligen Stimmung bei.

Immerhin kann die Verfilmung sich in einigen Szenen zumindestens sprachlich der Vorlage annähern, wenn es heißt: Du könntest uns genauso gut gleich unsere Särge zimmern! (00:04:25). In den Fassungen von 1843 (5), 1850 (6), 1857 (7) heißt es:

»O du Narr,« sagte sie, »dann müssen wir alle viere Hungers sterben, du kannst nur die Bretter für die Särge hobelen,« und ließ ihm keine Ruhe bis er einwilligte.

Abbildung 1 Filmszene aus Hänsel und Gretel (1987) – Im Hexenhaus (00:49:04)

Im Hexenhaus und bei der Darstellung der Hexe greift der Film dann ebenfalls Motive der Fassungen von 1843, 1850 und 1857 auf, wenn es um die Sehbeeinträchtigung der Hexe geht und ebendiese Störung ihr maßgebend zum Verhängnis wird und das Ende anrichtet:

Hänsel streckte ihr aber ein Knöchlein heraus, und die Alte, die trübe Augen hatte, konnte es nicht sehen, und meinte es wären Hänsels Finger, und verwunderte sich daß er gar nicht fett werden wollte. 1843 (5), 1850 (6), 1857 (7)

In der ersten Fassung von 1812 ist bereits zu lesen: […] guck hinein, ob das Brod schon hübsch braun und gar ist, meine Augen sind schwach, ich kann nicht so weit sehen. Im Film wird die Hexe wiederholt sogar mit entsprecher Sehhilfe gezeigt (00:46:53).

Auch die Witterung von Menschenfleich und das Verlangen danach thematisiert der Film direkt nach Ankunft von Hänsel und Gretel im bunten Hexenhaus in der Szene bei denen beide erstmals am Tisch essen (siehe Abbildung 1). Auch Gretels nächtliche Beobachtunen (00:55:38) stellen diesen Faktor heraus und die Verfilmung bedient sich dabei aus den letzten beiden Fassungen der KHM:

Die Hexen haben rothe Augen und können nicht weit sehen, aber sie haben eine feine Witterung, wie die Thiere, und merkens wenn Menschen heran kommen. 1850 (6), 1857 (7)

Abbildung 2 Filmszene aus Hänsel und Gretel (1987) – Happy End (01:23:28)

Im Gegensatz zu allen Fassungen der KHM wird den Zuschauer/innen im Film (Abbildung 2) ein Happy End mit glücklicher Familienzusammenkunft präsentiert. Hierbei könnte es naheliegen, dass die Filmemacher/innen auf Ludwig Bechsteins Version aus dem Jahr 1845 zurückgegriffen haben. So kann auch These 2 durchaus belegt werden.

Der alte Holzhauer und seine Frau saßen traurig und still in dem engen Stüblein und hatten großen Kummer um die Kinder, bereuten auch viele Tausendmal, daß sie dieselben fortgelassen, und seufzten: „Ach, wenn doch der Hänsel und die Grethel nur noch ein allereinzigesmal wieder kämen, ach, da wollten wir sie nimmermehr wieder allein im Walde lassen“ – da ging gerade die Thüre auf, ohne daß erst angeklopft worden wäre, und Hänsel und Grethel traten leibhaftig herein! Das war eine Freude! Und als nun vollends erst die kostbaren Perlen und Edelsteine zum Vorschein kamen, welche die Kinder mitbrachten, da war Freude in allen Ecken und alle Not und Sorge hatte fortan ein Ende. Ludwig Bechstein Deutsches Märchenbuch (1845)

Schlussbetrachtungen

Die Thesen 1-3 konnten belegt werden, auch wenn hier nur kurze Beobachtungen dazu eingebracht wurden. Der Film bietet viel mehr exemplarische Szenen für weitere Analysen. Inwieweit sich Märchenverfilmungen im Vergleich zu den literarischen Texten mehr in das kollektive Gedächtnis eines Publikums festgesetzt haben, bliebe zu diskutieren.

Filmplakat/Screenshots © Capelight Pictures

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